Politik

Zerrbild oder Monster?

Warteschlange vor Polizeifahrzeug.

Europäische Perspektiven

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Neujahrsansprache zu Silvester 2016 zunächst den Terror zum Thema gemacht, bevor sie über die europäischen Perspektiven sprach. Ich will auf das Thema Terror kurz eingehen – vorab so viel: Es ist kaum noch zu leugnen, dass der Rechtsterrorismus von unseren Geheimdiensten kommandiert wird. Aber vieles weist darauf hin, dass auch die Aktivitäten des islamischen Terrorismus von ihnen zugelassen, wenn nicht gelenkt werden. Allemal werden sie zur Einschränkung von demokratischen und sozialen Rechten genutzt. Zu prompt folgen den Anschlägen diesbezügliche Vorschläge und Maßnahmen.

Rabiat unterscheiden Polizei und andere Behörden nicht nur in Köln Verdächtige nach der sichtlichen Herkunft, wenn sie vorgeben, Kriminalität zu bekämpfen, sowie nach politischen Gesichtspunkten, wenn sie vorgeben, das Demonstrationsrecht zu schützen. Das haben am vergangenen Samstag 200 Antifaschisten zu spüren bekommen, als sie beim Protest gegen eine rassistische Demonstration von 55 Faschisten in eine Polizeifalle gerieten.

Merkel sprach zu Silvester von Zerrbildern, die sich viele von Europa machen würden. Ja, Europa sei langsam, sagte sie. Es sei mühsam und habe tiefe Einschnitte wie den Austritt eines Mitgliedsstaats hinzunehmen. Eine glückliche Zunkunft könne es aber nicht im nationalen Alleingang geben. Europa sei durch den globalen Wettbewerb, beim Schutz unserer Außengrenzen oder bei der Migration herausgefordert und müsse als Ganzes eine Antwort finden. Und wörtlich: «Wir Deutschen haben jedes Interesse daran, eine führende Rolle dabei zu spielen.»

Zu den Zerrbildern zählt sie die Behauptung, die parlamentarische Demokratie kümmere sich nicht um die Interessen der Bürger, sondern diene nur dem Nutzen einiger weniger. Angebliche Zerrbilder macht sie verantwortlich für das Gefühl vieler, die Welt insgesamt sei aus den Fugen geraten.

Tatsächlich müssen wir die Frage beantworten, wer hier die Wirklichkeit verzerrt. Täuschen wir uns, nimmt die Armut gar nicht zu? Macht die Drohung mit Hartz IV keine Angst? Wer verdient an der Herstellung und dem Verkauf von Waffen und Kriegsgerät? In wieviel Ländern ist die Bundeswehr an Kriegen beteiligt? Haben wir es nicht mit wachsender Kriegsgefahr zu tun? Handelt es sich beim Weißbuch der Bundeswehr und der Konzeption Zivile Verteidigung um unsere Erfindungen? Schwören sie uns nicht auf hybride, Cyber- und Medienkriege ein, auf die wir vorbereitet sein sollen, auf autoritäre Herrschaftsformen? Was sollen wir davon halten, wenn in beiden Texten immer wieder Russland als Feind genannt wird: «… stellt Russland die europäische Friedensordnung offen in Frage» (Weißbuch S. 31). «Russland wird … auf absehbare Zeit eine Herausforderung für die Sicherheit auf unserem Kontinent darstellen» (ebenda S. 32)?

Beten denn unsere Medien nicht jedes Märchen nach, das sich die Geheimdienste zwecks Kriegshetze ausdenken? Wer hat 2001 das ABM-Abkommen gekündigt, das die ballistischen Raketenabwehrsysteme begrenzte? Wer veranstaltet gegenwärtig monatelange Manöver an Russlands Grenzen? Wer stellt dort Raketen auf? Wer hält Atombomben in Büchel heiß?

Am 2. Januar schrieb Jörg Kronauer in der jW über die Eurokrise: sie schwärt und schwärt. In der Tat ist die Eurokrise zwar eine mittelbare Folge der weltweiten Überproduktionskrise, vor allem aber direkte Wirkung deutscher Dominanz in der EU und der europäischen Krisenbewältigungsstrategie, die zu heftigen Unterschieden der Handelsbilanzen führt. Deutsche Konzerne exportieren, nutzen den Vorteil geringer Lohnkosten zu Lasten der Industrie insbesondere des europäischen Südens, dessen Produkte nicht mehr konkurrenzfähig sind. Kompensiert werden die in der Folge auftretenden Defizite durch Kredite, die zwangsläufig in den Status der Uneinbringlichkeit fallen. Die mit faulen Kredite belasteten Banken hält der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit Rettungsschirmen am Leben. Bekanntlich ist der ESM ein Umverteilungsmechanismus von Arm zu Reich. Alle Handlungen im Namen des ESM, daran sei erinnert, sind vor Strafverfolgung geschützt, geheim und unterliegen keinerlei Kontrolle. Wir hören wenig von seiner ruhmreichen Tätigkeit.

Die Austeritätsprogramme von EU, EZB und ESM würgen die wirtschaftliche Tätigkeit der betreffenden Länder ab, halten die Gewinne privat, sozialisieren dafür die Schulden, die sich zu Bergen häufen.

Nach wie vor besteht der Kern der Krisenbewältigung der EU in brutalen Kürzungsmaßnahmen. Am schlimmsten gegenüber Griechenland. Die Griechen wehren sich vergeblich mit Streiks und Straßenblockanden gegen Steuererhöhungen und Rentenkürzungen. Anfang Dezember wollte Tsipras den 1,6 Millionen Rentnern mit 800 Euro pro Nase ein Trostpflaster gönnen. Sogleich zeigte der ESM die Instrumente und stoppte Schuldenerleichterungen für das Land. Die EU treibt Griechenland immer weiter in die Schuldenfalle. Schon 2010 lagen die griechischen Schulden bei 145,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). 2015 stehen sie bei 178,5 Prozent. Die spanischen Staatsschulden sind von 60,1 Prozent des BIP im gleichen Zeitraum auf 99,0 Prozent gestiegen, Portugal klettert von 96,2 des BIP auf 128,8 Prozent, Italien von 115,4 Prozent auf 132,6 Prozent. Hier, in Italien, wurde es Anfang Dezember besonders heiß. Im Jahre 2009 hatte das uneinbringliche Kreditvolumen in Italien noch 60 Milliarden betragen. Nach den Kürzungsdiktaten in der Folge der Euro-Krise, der gewachsenen Arbeitslosigkeit und Armut im Lande beläuft sich die Summe der uneinbringlichen Kredite auf 360 Mrd Euro. Akut bedroht war die älteste Bank, Monte dei Paschi aus Siena, die hinter den ehrwürdigen Mauern des Palazzo Salimbeni aus dem 15. Jahrhundert neben einer Anzahl von Kunstschätzen Berge an faulen Krediten hortet. Sie musste schon zweimal staatlich gerettet werden. Mitte 2016 wies das Haus faule Kredite in Höhe von 47 Milliarden Euro auf. Die Beschäftigtenzahl sank von 31.000 in 2011 auf 26.000 in 2015. Nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum trat die Regierung Renzi zurück. Die Nachfolgeregierung unter Paolo Gentiloni sah sich am 20. Dezember veranlasst, in das Fass ohne Boden abermals 6 Milliarden zu pumpen. Zuvor hatte sie sich einen sogenannten Stabiliätsfonds von 20 Milliarden Euro genehmigen lassen. Die Tagesschau vom 26. Dezember bezifferte den Kapitalbedarf des Monte dei Paschi auf 8,8 Milliarden, weit mehr als zuvor veröffentlicht worden war. Von Verstaatlichung und demokratischer Kontrolle spricht selbstverständlich niemand bei dieser Gelegenheit.

Welche Verfassung wollte Renzi am 4. Dezember per Referendum durchsetzen? Renzi wollte den Staat insgesamt schlanker machen, um durchregieren zu können. Ein ähnliches Referendum, von Berlusconi auf den Weg gebracht, war schon 2006 abgelehnt worden. Derartige italienische Zentralisierungsbemühungen erinnern an des Finanzministers Schäuble Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen und an die kürzlichen Vorschläge des Innenministers de Maizière. Beide wollen den Bundesländern Kompetenzen nehmen und sie auf den Bund übertragen. Sie betreffen die empfindlichsten Bereiche: Finanzen und Geheimdienste.

Die letzten Zahlen zur globalen Verschuldung hatte ich im September 2015 auf der BDK mitgeteilt. Sie beruhten auf einer Untersuchung von McKinsey. Hiernach hatten die Schulden der 47 reichsten Länder Ende 2014 einen Stand von 175 Billionen Euro erreicht, das Dreifache ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung. Diese Summe repräsentiert Vermögens­ansprüche von Gläubigern, die Verzinsung und Tilgung erwarten. Schulden bzw. Vermögens­ansprüche wachsen schneller als die Wirtschaftsleistung. Die Gesamtmasse der Kredite war von 142 Billionen Dollar im Jahr 2007 auf 199 Billionen Dollar im Jahr 2014 gewachsen. Im Jahr 2000 war es noch halb so viel. Von den 199 Billionen entfielen 40 auf Privathaushalte, 56 auf Unternehmen, 58 auf Regierungen, 45 auf Finanzinstitute. Eberhardt Unger vom Analysehaus Fairesearch hat auf dieser Grundlage bei einer unterstellten Wachstumsrate von jährlich fünf Prozent die Gesamtschulden­menge im Juli vergangenen Jahres auf mittlerweile 220 Billionen Dollar geschätzt. Der IWF registrierte im Oktober noch einmal den hohen Schuldenstand. Dem Rekordwert der weltweiten Schulden stehe ein schwaches Wachstum gegenüber. Der IWF hob den Zeigefinger, um sachte zu tadeln, dass dieser Umstand die Rückzahlung der Verpflichtungen erschwere.

Die Süddeutsche Zeitung vom 7. Oktober berichtete von den IWF-Ökonomen und ihrem neuesten «Global Fiscal Monitor», der allerdings die Gesamtschulden der Welt auf nur 152 Billionen Dollar beziffert. Die Unterschiede zu den von McKinsey abweichenden Zahlen erschließen sich mir zunächst nicht. Sie sagen aber, die schiere Größe des Schuldenberges berge die Gefahr, dass ein «beispielloser» Prozess des Schuldenabbaus einsetze. Auf deutsch: Kapitalvernichtung. Den Verpflichtungen stehen ja spiegelbildlich Ansprüche gegenüber, Kapital, das sich nicht verwertet. Seit Jahren sorgen ESM und EZB, aber auch die FED und die anderen Zentralbanken der Welt dafür, dass die faulen Kredite nicht zu Bankrotten führen. Sie übernehmen die Schulden, reißen die gefährdeten Banken aus dem Feuer. Begründung: sie seien systemrelevant. Sie verhindern also mittels der Bankenrettungs­schirme die fällige Kapitalvernichtung. Früher führten die reinigenden Effekte der Krise zyklisch zu einer Erholung der Wirtschaft. Aber selbstverständlich retten die Zentralbanken mit ihren kurzatmigen Maßnahmen zunächst mal nicht nur den Kapitalismus, sie verbergen dahinter ganz beiläufig die tödliche Konkurrenz großer Kapitalgruppen. Tatsächlich beobachten wir einen Kampf der Giganten. Unscheinbare Ereignisse können in dieser labilen Lage globale Katastrophen zeitigen.

Wir sind also bedroht. Wer bedroht uns? Es ist das Wirtschaftsystem, das auf dem privaten Eigentum an den wesentlichen Produktionsmitteln beruht, auf dieser Basis das Recht auf Profit garantiert und den wirtschaftlichen Erfolg mit dem Profit gleichsetzt.

Damit wir aber nicht auf die Idee kommen, das ändern oder auch nur Demokratie, Rechtsstaat, Bürgerrechte, Freiheit, Offenheit und Rechtssicherheit schützen zu wollen, erleben wir ein anderes Szenario. Den Terror. Vor allem die medial geschürte Angst davor und den durch diese Angst legitimierten Abbau von sozialen und demokratischen Rechten.

Dieser Abbau hat mittlerweile ein Maß erreicht, das den Kernbestand unserer Verfassung tangiert. Bislang konnten im Kampf um seinen Erhalt einige Maßlosigkeiten verhindert werden. Immerhin zählen dazu der Große Lauschangriff, die präventive Telekommunikations­überwachung, der Fluggast-Datentransfer an US-Sicherheitsbehörfen, die Befugnis im Luftsicherheits­gesetz zum präventiven Abschuss eines entführten Passagierflugzeugs durch das Militär. Auch exzessive Rasterfahndungen nach «islamistischen Schläfern» sind für verfassungswidrig erklärt worden, ebenso wie die heimliche Online-Durchsuchung von PCs mit Staatstrojanern, präventive Terrorabwehr­befugnisse des BKA und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikations­daten (siehe Rolf Gössner, «Angst- und Sicherheitspolitik» in: Terror, wo er herrührt, wozu er missbraucht wird, wie er zu überwinden ist, ISW-Spezial Nr. 29, Dezember 2016). Aber just mit dem Verweis auf die Pariser Anschläge ist 2015 die Vorratsdatenspeicherung in der Bundesrepublik leicht abgewandelt wieder in Kraft gesetzt worden, obwohl gerade Frankreich, wo die Vorratsdatenspeicherung exzessiv genutzt wird, zeigt, dass die Attentate dort nicht verhindert werden konnten.

Bei uns ist im Sommer 2016 eine Antiterror-Gesetzespaket verabschiedet worden. Daraus drei Beispiele:

  1. Dem Verfassungschutz wird ein enger Datenaustausch mit ausländischen Geheimdiensten, insbesondere von EU- und NATO-Staaten sowie Israels über mutmaßliche islamistische Terror-Verdächtige gestattet, über deren mögliche Kontakt- und Begleitpersonen. Wie problematisch ein solcher Datenpool ist, wird am Beispiel Türkei sichtbar, wo solche auszutauschenden Daten womöglich erfoltert worden sind. In dem Zusammenhang ist auch die Altersgrenze Minderjähriger, die erfasst werden, auf 14 herabgesetzt worden.
  2. Der Einsatz verdeckter Ermittler. Den polizeilichen Geheimagenten ist das Betreten von Wohnungen gestattet, dazu Maßnahmen zum Zweck der Eigensicherung wie akustische und optische Überwachung, also Lausch- und Spähangriffe in und aus Wohnungen.

Ich hatte schon auf der BDK im September 2015 berichtet: Seit dem 3. Juli 2015 hält ein Gesetz V-Leute straffrei, wenn sie Straftaten im Zusammenhang mit ihrer Aufklärungstätigkeit begehen, namentlich, wenn die Straftaten dazu dienen, Vertrauen in der Szene zu entwickeln. Die Konsequenz: Naziterror ist nicht nur straffrei, sondern wird sogar bezahlt. Ein solches Gesetz öffnet Schleusen bei der Rekrutierung von Nazis für den VS, ermutigt sie zu weiteren rassistischen, gegen die Linke und überhaupt gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Gewalttaten. Es soll Antifaschisten und Friedenskräfte einschüchtern und wird Rassismus und Kriegshetze fördern.

  1. Zur Verhinderung anonymer Kommunikation müssen Telekommunikations­anbieter jeden Käufer von Prepaid-Handys bzw. SIM-Karten anhand eines amtlichen Ausweises zweifelsfrei identifizieren und alle persönlichen Daten speichern – anlasslos und verdachtsunabhängig.

Und jetzt sehen wir uns mal in Europa um. Am 15. März wird in den Niederlanden gewählt. Nach Umfragen wird die PVV von Geert Wilders die stärkste Partei werden. Ende April ist Frankreich dran. Auch hier wird in den Umfragen Marine Le Pen mit ihrem Front National die relative Mehrheit vorausgesagt mit knapp unter 30%. Am 14. Mai wird der Landtag in NRW gewählt. Die Umfragen für die AfD liegen bei 10%. Bei der Bundestagswahl (wahrscheinlich 24. September) liegen die Prognosen für die AfD bei 11,3%, für die CDU 36,3%.

Diese Zahlen sind veränderlich. Wir dürfen auf Überraschungen gefasst sein. Aber wozu erzähle ich das? Wir müssen uns einfach vorstellen, dass der rechten Bande die erwähnten Instrumente in die Hände fallen. Sie stehen jetzt schon als gesetzliche Handhabe zur Verfügung. Was passiert beispielsweise mit den Listen von antifaschistischen Demonstranten, von denen ich eingangs gesprochen habe, wenn die Gestalten, gegen die sie demonstriert haben, Regierungsmacht bekommen? Aber derartige Überlegungen werden noch die geringsten Sorgen sein, die wir uns machen.

Es muss gelingen, eine Gegenbewegung anzuregen, die sich der nächstliegenden Sorgen der Lohnabhängigen, der Armen und von Armut Bedrohten annimmt und sie klug mit den Fragen der Krisen- und Kriegsursachen verknüpft.

Text und Foto: Klaus Stein
10. Januar 2017


«Die Lage in Frankreich vor den Präsidentschaftswahlen am 23. April und die Perspektiven der EU»

Georg Polikeit kommt nach Köln und referiert auf der Mitgliederversammlung der DKP Innenstadt über zu o.g. Thema.

Gruppenabend der DKP Köln-Innenstadt
Dienstag, 17. Januar 2017, 19.30 Uhr Freidenkerzentrum, Bayenstraße 11