Politik

Wer hat geputscht?

"<br US-General Joseph F. Dunford beim Besuch eines Teils des beschädigten Parlaments am 1. August 2016

 

Nach dem Putsch wird nach und nach bekannt…

Das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) an der Uni Duisburg/Essen setzt den Beginn des Putsches auf den 15. Juli, 22.05 Uhr, an, als Jets über Ankara fliegen und die Bosporusbrücken in Istanbul von Militär gesperrt werden. Wenig später stehen an zentralen öffentlichen Gebäuden Militärs. Die Gebäude des Generalstabs und des türkischen Geheimdienstes werden beschossen. Für das ZfTI Beweis, dass der Putsch nicht Resultat der Befehlskette der türkischen Streitkräfte sein kann. Um 22.30 Uhr sind Schüsse aus dem Gebäude des Generalstabs zu hören, Panzer und Militärs machen sich auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul zu schaffen.

Um 23.10 Uhr meldet Ministerpräsident Yildirim den Putschversuch per Mobiltelefon, er erklärt, dass militärische Maßnahmen «außerhalb der Befehlskette» ergriffen worden seien und dass Teile des Militärs einen illegalen Versuch, die Macht zu ergreifen, unternommen hätten. Die Beteiligten würden den höchsten Preis bezahlen müssen.

Schon zu diesem Zeitpunkt nehmen alle Parlamentsfraktionen gegen den Putsch Stellung. Nach Informationen des Züricher Tagesanzeigers vom 18. Juli hatte Präsident Erdoğan im Grand-Yazici-Hotel in Marmaris eine Stunde vor den Aktionen eine SMS erhalten. «Ein Putsch findet statt, die Situation in Ankara ist ausser Kontrolle. Komm nach Istanbul, und ich werde den Weg für dich freimachen. Du bist unser legitimer Präsident.» Die SMS stammt von Ümit Dündar, Kommandant der 1. Armee. Erdogan hält sich zu Urlaubszwecken in Marmaris auf. Laut Tagesanzeiger holt er hier den Ramadan-Urlaub nach. Er habe ihn wegen des Nato-Gipfels in Warschau während des Fastenmonats aufschieben müssen.

Unterdessen zwingen um 0.05 Uhr Putschisten die Moderatorin des öffentlich-rechtlichen TV-Senders TRT mit vorgehaltener Waffe, vor der Kamera eine Botschaft zu verlesen. Der «Rat für den Frieden im Land» habe die Macht übernommen, um die Türkei vor der zunehmend autokratischen Herrschaft Erdogans zu schützen. Wörtlich: «Die türkischen Streitkräfte haben die komplette Regierung des Staats übernommen, um die verfassungsmäßige Ordnung, die Menschenrechte und die Freiheit, den Rechtsstaat und die öffentliche Sicherheit, die beschädigt worden waren, wiederherzustellen. […] Alle völkerrechtlichen Verträge sind nach wie vor gültig. Wir hoffen, dass unsere guten Beziehungen zu allen Staaten weiter bestehen.» Personal und Größe des Rates werden nicht genannt.

Vermutlich kann sich Erdogan die Verlesung der Putschistenverlautbarung noch im Fernsehen ansehen, bevor er das Hotel um 0.11 Uhr in Richtung Flughafen Dalaman, knapp anderthalb Autostunden östlich des Ferienortes, verlässt. Schon um 0.37 Uhr wendet er sich in einem von CNN-Türk übertragenen Videoanruf an die türkische Bevölkerung: «Wir werden das überwinden. Die Verantwortlichen werden den gerechten Preis bezahlen.» Und er ruft das Volk dazu auf, öffentliche Plätze und Flughäfen zu besetzen. Ob es einen Angriff auf sein Leben gegeben habe, fragt die Moderatorin. Bislang nicht, antwortet Erdogan.

Etwa eine halbe Stunde, nachdem der Präsident das Grand-Yazici-Hotel verlassen hat, greifen drei Militärhelikopter mit rund 40 Mitgliedern einer Spezialeinheit das Gebäude an. Ihre Mission: Erdogan festnehmen oder töten. Die Präsidentengarde verteidigt das Hotel, im Feuergefecht sterben zwei Sicherheitskräfte, sieben weitere werden verletzt. Ein Teil der Soldaten setzt sich nach dem missglückten Angriff in die umliegenden Berge ab, berichtet der Tagesanzeiger am 18.7.16.

Um 1.40 Uhr taucht Erdogans Präsidentenmaschine auf dem Flugradar auf.

Zur selben Minute erschallt aus den Moscheen in der Türkei über den Gebetsruf die Aufforderung, sich den Putschisten auf den Straßen entgegenzustellen. Die Gläubigen waren schon am frühen Abend aufgefordert worden, in den Moscheen auszuharren. Das Bombardement des Parlaments ab 2.50 Uhr kann dann schon in der gesamten Türkei im Fernsehen live beobachtet werden, während von der Regierung eine Nachrichtensperre verhängt und der Zugriff auf Twitter, Facebook und YouTube blockiert wird.

Die Präsidentenmaschine nimmt unterdessen Kurs auf Istanbul, begleitet von zwei F-18-Kampfjets. In der Luft wird die Präsidentenmaschine von ebenfalls zwei F-18-Kampfjets ins Visier genommen. «Warum sie nicht geschossen haben, ist ein Rätsel», sagt später ein hochrangiger Militär laut Tagesanzeiger dazu. Laut Guardian vom 18. Juli sei es dem Piloten des Präsidentenjets gelungen, die Angreifer per Funk zu überzeugen, dass es sich um eine zivile Linienmaschine der Turkish Airlines handele. The Independent vom 21. Juli berichtete von einem Offizier, der einer Nachrichtenagentur mitteilte, dass die Piloten der Gulfstream IV des Präsidenten den Transpondercode ihrer Maschine auf den des Fluges THY 8456 der Turkish Airlines änderten, um ihre Identität zu verschleiern und die Gulfstream im zivilen Luftverkehr zu verstecken, bis regimetreue Piloten die zwei Jagdflugzeuge der Putschisten vertrieben hätten.

Für mich deuten indessen diese widersprüchlichen Erklärungen auf Regielücken im Ablaufplan des Putschtheaters.

Wegen der Gefechte zwischen Putschisten und Sicherheitskräften der Regierung auf dem Istanbuler Flughafen Atatürk sei die Präsidentenmaschine sodann gezwungen gewesen, südlich von Istanbul Warteschleifen zu fliegen. Im Flugzeug habe der Präsident eine Entscheidung getroffen: «Erdogan fragte den Piloten, ob er nur mit den Scheinwerfern des Flugzeugs und ohne Erlaubnis des Towers landen könne», erzählt später Justizminister Bekir Bozdag. Dieser habe gesagt, es sei möglich, aber riskant. Erdogan habe dann befohlen, in Istanbul zu landen. Der Pilot schaltet den Transponder auf dem Landeanflug aus, um unentdeckt zu bleiben.

Um 3.20 Uhr landet der Präsidentenjet auf dem Flughafen Atatürk. Um 4.07 Uhr tritt Erdogan vor das Gebäude. «Der Präsident, den 52 Prozent des Volkes an die Macht gebracht haben, hat die Kontrolle. Die Regierung, die vom Volk an die Macht gebracht wurde, hat die Kontrolle», erklärt er. Die dort mittlerweile versammelte Menge jubelt frenetisch. Bis zu diesem Zeitpunkt hat es 265 Todesopfer gegeben. Zivilisten und Militärs.

Als Quelle dieser Informationen werden vom Züricher Tagesanzeiger genannt: Recherchen türkischer Zeitungen, Agenturmeldungen und die Flugroute der Präsidentenmaschine. Einige dieser Informationen können nur von Regierungsseite stammen – etwa die Deutung der Mission der Spezialeinheit, die das Hotel angegriffen hat. Oder auch die Schilderung von Einzelheiten der Landung in Istanbul. Auch die Informationen eines Wikipedia-Eintrags stammen offenbar zu einem großen Teil aus Erklärungen der Regierung oder ihr nahestehender Agenturen.

Aber es stellen sich schon auf dieser schmalen empirischen Grundlage einige Fragen. Die erste ist: ab wann wusste der Kommandant Ümit Dümdar von dem geplanten Putsch? Ab wann wusste die Spezialeinheit, die das Hotel angegriffen hat, von Erdogans Aufenthaltsort? Von wo sind sie gestartet, wie lange hat der Anflug gedauert? Wer überhaupt sind die Putschisten – von den einfachen Soldaten, viele Wehrpflichtige wurden getötet, kann nicht erwartet werden, dass sie den Zweck der Übung kannten.

Als ich im Urlaub vom Putsch erfahre, erinnert er mich zunächst mal an einen anderen. Und zwar den von Teilen des indonesischen Militärs vor 51 Jahren. In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1965 waren in Indonesiens Hauptstadt Jakarta sechs Generäle, darunter Armeechef Ahmad Yani, sowie ein Leutnant im Zuge eine Putschversuchs von Offizieren umgebracht worden. Die Putschisten besetzten den Präsidentenpalast, die Rundfunkstation und das Postgebäude am Merdeka-Platz in Jakarta. Ihr Anführer Oberstleutnant Untung erklärte im Rundfunk, dass die «Bewegung des 30. September» einen CIA-unterstützten Putsch des «Rates der Generäle» vereitelt habe. Die Bewegung teilt mit, sie unterstütze Sukarno, die indonesische Revolution und richte sich gegen machtbesessene hohe Offiziere.

Die späteren Machthaber um den Chef der Eliteeinheit Kostrad des strategischen Armeekommandos, Generalmajor Suharto, machten aber unverzüglich die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI) und mit ihr verbundene Massenorganisationen verantwortlich. Das verwies auf den eigentlichen Zweck der Aktion, der vielleicht nicht jedem der Akteure klar war. Die Offiziere um Oberstleutnant Untung waren weder Kommunisten noch vertraten sie sozialistische Ziele. Auf der anderen Seite war die Kommunistische Partei völlig überrascht. Womöglich hatte Suharto selbst die Strippen gezogen, um einen Vorwand für den eigentlichen Putsch zu haben. Als gesichert indes darf der Einfluss der US-Amerikaner und Briten gelten. Demzufolge unterblieben mediale und politische Reaktionen im Westen. Allenfalls war Erleichterung zu spüren über die Eindämmung der weltweit drittstärksten kommunistischen Partei. Der Staatssekretär im US-Außenministerium Alexis Johnson meint z.B. 1966: «Die Zurückdrängung der kommunistischen Flut im großen Land Indonesien wird wahrscheinlich neben dem Vietnamkrieg als einer der historisch bedeutendsten Wendepunkte in Asien in diesem Jahrzehnt gewertet werden.»

Die kommunistische Partei wurde physisch vernichtet. Die Schätzungen reichen von einer halben bis zu drei Millionen Morden, Voraussetzung für eine zumindest bis 1998 wirksame antikommunistische Militärdiktatur in Indonesien und der ungehinderten Aneignung von reichen Bodenschätzen durch US-amerikanische Konzerne. Ich habe im Februar auf dem Kulturabend unserer Gruppe darüber referiert. Das Referat («Indonesien 1965 und ein unscharfer Überblick über die Literatur zu diesem Thema») steht auf der Website des Bezirks. «Indonesien 1965 und ein unscharfer Überblick über die Literatur zu diesem Thema»

Tatsächlich begannen in der Türkei unverzüglich die Unterdrückungsmaßnahmen.

Am 19. Juli kann ich in Umbrien eine FAZ erstehen. Unter dem Titel «Gefahr für die Türkei» wird berichtet: «Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Anhänger dazu aufforderte, auf den Straßen und Plätzen des Landes die Demokratie zu verteidigen, setzte er eine gefährliche Entwicklung in Gang. Zweimal rief er sie am Samstag dazu auf, erst per Handy noch aus Marmarin, dann nach seiner Ankunft auf dem Flughafen in Istanbul. Schließlich wurde mit dem Absender 'der Staat der Republik Türkei' noch auf jedes Mobilfunkgerät eine Kurznachricht mit der Aufforderung verschickt, die Demokratie zu verteidigen. Die Mobilisierung wirkte. Millionen gingen auf die Straßen, sie stellten sich den Panzern entgegen und drängten die Putschisten zurück. Was aber darauf an vielen Orten folgte, war die Herrschaft des enthemmten Mobs, die an die Stelle des Rechts trat. In der Putschnacht und am Tag danach gingen viele zur Selbstjustiz über. Die schlimmsten Fotos waren jene, die zeigten, wie Wehrpflichtige, die in den Putsch geschickt worden waren, gelyncht wurden. Ein Soldat wurde auf einer der beiden Bosporusbrücken sogar enthauptet. … Erstmals wurden in der Türkei in mehreren Städten Häuser angegriffen, in denen Flüchtlinge wohnen, und Betriebe, in denen sie arbeiten. Rechtsradikale Schlägerbanden zogen durch Stadtviertel von linken Aleviten.»

Berthold Kohler, einer der Herausgeber der Zeitung, kommentiert die Maßnahmen nach dem gescheiterten Putsch: «Innerhalb von drei Tagen wurden mehr als 7500 Soldaten, Richter, Staatsanwält und Polizisten festgenommen. 13 000 weitere Staatsbedienstete sind inzwischen suspendiert worden. Das schafft auch der effizienteste Polizeistaat der Welt nicht aus dem Stand. Die Listen muß es schon gegeben haben, weil Erdogan entweder ohnehin einen solchen Schlag gegen alle plante, die er als seine Feinde ansieht, oder weil er für den Fall eines Umsturzversuches, den er ein 'Geschenk Allahs' nannte, vorbereitet sein wollte. Erdogans Kontraputsch fällt so massiv aus, daß der Westen sich genötigt sieht, mit fast allem zu drohen, was dem türkischen Präsidenten weh tun könnte.»

Mit Wirkung zum 27. Juli 2016 beschloss der unter dem Vorsitz Erdoğans zusammentretende Ministerrat die Schließung von drei Nachrichtenagenturen, 16 Fernseh- und 23 Radiosendern, 45 Zeitungen, 15 Zeitschriften sowie 29 Verlagen und Vertriebsunternehmen.

Die Tagesschau meldete am 3. August unter Berufung auf offizielle türkische Quellen, dass fast 19.000 Menschen festgenommen worden seien. Gegen mehr als 10.100 von ihnen wurden Haftbefehle ausgestellt. Mehr als 58.600 Staatsbedienstete wurden suspendiert und fast 3500 dauerhaft entlassen.

Notiert habe ich aus einem bezeichnendem Bericht der schon erwähnten FAZ («Explosion im Porzellanladen», FAZ 19.7.16, S. 4): «Der Zufall des Kalenders wollte es, dass Europäer und Amerikaner am Montag bei der Bewertung der Entwicklung in der Türkei nach dem gescheiterten Staatsstreich nicht nur miteinander, sondern auch mit einer Stimme sprechen konnten. Mit dem amerikanischen Außenminister John Kerry hatte sich, was schon seit längerem geplant war, hoher Besuch aus Washington angesagt. Gut drei Stunden zog sich das als 'informelles Frühstück' zwischen Kerry und seinen 28 Amtskollegen, darunter der britische Neuling und Brexit-Wortführer Boris Johnson, angekündigte Treffen am Vormittag hin. Dann erläuterten Kerry und die Vorsitzende des EU-Außenministerrates, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, die gemeinsame Linie: eine gemeinsame Verurteilung des versuchten Coups, aber auch die eindringliche Mahnung an Präsident Recep Tayyip und die politisch Verantwortlichen in Ankara, rechtsstaatliche Prinzipien und Grundrechte hochzuhalten und der Versuchung zu widerstehen, eine großangelegte 'Säuberung' von unliebsamen Angehörigen in Armee und Justizapparat vorzunehmen.»

Das sagt uns die Pressemitteilung dieser Konferenz – bemerkenswert ist indes schon, dass innerhalb von drei Tagen die westlichen Außenminister zusammenkommen und eine gemeinsame Linie abstimmen können. An Zufälle glaube ich dabei nicht.

Nun ist das türkische Militär, insbesondere mit der NATO im Rücken, durchaus putscherfahren und Dilettantismus eher auszuschließen.

Bis 1989 stammten sechs von sieben Staatspräsidenten aus der Umgebung des Militärs. Adnan Menderes, dessen Regierung aus den Wahlen von 1950 hervorgegangen ist, wurde am 27. Mai 1960 durch das Militär gestürzt und, nachdem ihm der Prozess gemacht worden war, am 17. September 1961 hingerichtet. Artikel 35 eines Militärgesetzes von 1960 wies den Streitkräften eine innenpolitische Wächterfunktion für die laizistische Republik und Verfassung zu. Auf ihn beriefen sich in der Folge die türkischen Militärs mehrfach. Am 12. März 1971 wurden Parlament und die Regierung für Anarchie und Bruderkrieg, soziale und wirtschaftliche Unruhen verantwortlich gemacht und abgesetzt. Es folgten Massenrepressionen. Auch am 12. September 1980 putschte das Militär unter Berufung auf den Artikel 35 des «Internen Dienstgesetzes der Türkischen Streitkräfte». Am 28. Februar 1997 wurde die Regierung unter Necmettin Erbakan durch eine politische Intervention der Militärführung zum Rücktritt gezwungen.

Und man muß unterstellen, daß diese Putsche, ebenso wie der in Griechenland 1967, von der NATO mindestens gestützt, wahrscheinlich sogar angeregt waren. Bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich davon aus, daß auch der Erdogan-Putsch vom 15. Juli, also der Gegenputsch gegen den scheinbar dilettantischen, durch die NATO gestützt und gewollt wurde. Ich folge nicht den Spekulationen, daß hier nationale Kräfte einer Einmischung der USA hätten widerstehen müssen. Hier handelt es sich meines Erachtens nicht um einen durch EU, USA und mehrheitlich kemalistisch orientiertes Militär geführten Kampf gegen die weitere Islamisierung und türkische Alleingänge in Syrien, wie Günter Pohl (UZ, 22. Juli 16) mutmaßt. Es sei zwar der vierte Militärputsch seit Republikgründung gewesen, aber der erste, der sich nicht gegen Linke richtete, sagt er. Ein derartiges Verständnis übersieht mit den Grauen Wölfe am 31. Juli in Köln die rapide nationalistische Formierung der türkischen Öffentlichkeit. Es übersieht auch die Welle von Prozessen, die unter anderem auf Journalisten, Parlamentariern und anderen demokratischen Kräften zurollt. Die drohende mehrjährige Haftstrafe für den HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş wegen Terrorpropaganda gibt einen Hinweis. Für Günter Pohl emanzipiert sich die Türkei vom US-Einfluss: «Die Zeiten, wo die Türkei das Pentagon brauchte, um Regionalmacht zu werden, sind fast vorbei, denn sie ist eigenständig auf dem Weg dahin.» Klara Bina (UZ, 29. Juli) warnt vor der Rhetorik von Demokratie und Menschenrechten durch hiesige Imperialisten. Die Verhaftungswelle werde häufig als Schlag gegen die Opposition beschrieben. Putschisten seien aber nicht einfach nur Oppositionelle, sondern Verbrecher. Sie beruhigt uns mit dem Hinweis, daß aus den Reihen von CHP, MHP und HDP noch keine Verhaftungen bekannt wurden. Keine Regierung würde das Risiko einer weiteren Schwächung des eigenen Staatsapparates durch quasi unnötige Massenverhaftungen eingehen, wenn es denn nicht aus ihrer Sicht tatsächlich sicherheitsrelevant wäre. Sie rechtfertigt offenbar die bisherigen Verhaftungen und Suspendierungen. Sie unterstellt, dass sich die Unterdrückungsmaßnahmen gegen Hizmet, gegen die Anhänger von Fetullah Gülen und dessen CIA-Vernetzung richteten. Uwe Koopmann gar (UZ 12. August 16) zitiert Quellen, die auf die NATO-Geheimarmee Gladio verweisen. 149 von 325 Generäle seien schon verhaftet worden. Die Nachrücker seien eher offen für «eurasische Ansichten», also für künftige Verbindungen mit Putin und Armenien.

Aber hinter der nationalistische Formierung der türkischen Öffentlichkeit versteckt sich die Stoßrichtung gegen die arbeitenden Menschen. Murat Cakir, gegenwärtig in der Türkei, schreibt am 9. August von den umfangreichen Vergünstigungen für die türkische Monopolbourgeoisie und internationale Konzerne: «Ein neues Gesetzespaket sieht vor, dass neue Investoren 100 Prozent Steuerbefreiung sowie weitere Subventionen, wie 10 Jahre lang Übernahme der Versicherungsprämien für Beschäftigte oder Rückzahlung der Umsatzsteuer, erhalten. Eine der ersten Maßnahmen des Regierens per Dekret war das Streikverbot.»

Offenkundig kursieren unter uns zu den Vorgängen in der Türkei zwei gegensätzliche Deutungsmuster. Hatten wir es mit einem Putsch ausländischer, vor allem US-amerikanisch inspirierter Kräfte zu tun, der von unterschiedlichen, aber patriotischen, gar unter Einschluss mehr oder weniger linker Kräfte hat heldenhaft abgewehrt werden können? Und wendet sich in der Folge die Türkei wie von selbst vom Imperialismus ab?

Oder war es ein von der NATO und den Geheimdiensten gestützter Putsch für, von und mit Erdogan, der seine Diktatur und die seiner klerikal-faschistischen Partei zur Niederhaltung sozialer und demokratischer Ansprüche arbeitender Menschen und zu militärischen Abenteuern nutzen wird? Namentlich zu weiterer Destabilisierung des Nahen Ostens und der Kaukasus-Region bis nach Mittelasien hinein?

 

Referat Klaus Stein
DKP Kölner Innenstadt, 16. August 2016

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