Politik

Warum protestieren die Menschen im Iran

Protestierende. 

Nach langer Ruhe Massenproteste im Iran

03.01.2018 |  Karwan Hewram (ANF):

«Die Menschen leiden, sind arm, arbeitslos und jung. Frauen kommen auch auf die Straße» ++ Unterschied zu früher: Proteste richten sich sowohl gegen die Reformer als auch gegen die Konservativen ++ Tudeh-Partei: Mehrheit will ein Ende des despotischen, theokratischen Regimes ++ Tudeh-Partei warnt vor ausländischer Einmischung und reaktionären Kräften ++ Karwan Hewram zur Frage, wie es weitergehen kann.

Landkarte.

Lange Zeit herrschte Ruhe im Iran. Aber vor einigen Tagen haben in der Stadt Meshed im Nordosten des Iran Proteste begonnen, die sich innerhalb kurzer Zeit auf den ganzen Iran ausweiteten. Es sind die die größten Demonstrationen seit der blutig niedergeschlagenen

Protestbewegung von 2009 gegen die Wiederwahl des damaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Im Unterschied zu der damaligen «Grünen Bewegung», die vor allem auf Teheran begrenzt und deren Avantgarde die Jugend und vor allem Studierende waren, haben die heutigen Proteste ihren Ausgangspunkt in der Provinz, in Städten wie Meshed, Kum und Isfahan. Auslöser war die Wut über Arbeitslosigkeit und hohe Preise.

So begannen bereits am 2. Dezember die Beschäftigten des riesigen Zuckerrohrplantagen- und Zuckerrohrfabrikkomplexes Haft Tapeh in Shush im Südwesten des Iran nach vier Monaten ohne Löhne und Sozialleistungen eine neue Streik- und Demonstrationswelle. (siehe ‹Vier Monate ohne Löhne! Haft Tapeh-Zuckerarbeiter starten Streiks und Demonstrationen›). Ebenfalls Anfang Dezember haben mehr als 1.000 Arbeiter des South-Pars-Öl- und Gasfeldes und der Raffinerien in Bandar Abbas und Bushehr im Süd-Iran eine öffentliche Petition an den staatlichen TV- und Rundfunksender gerichtet. Sie fordern die Entsendung eines Untersuchungsteams zur Dokumentation der untragbaren Arbeitsbedingungen. (siehe Iran: workers in South Pars oil and gas fields submit petition to state broadcaster)

«Die Menschen leiden, sind arm, arbeitslos und jung. Frauen kommen auch auf die Straße. Hausfrauen sind auf der Straße und sagen, wir gehen nicht nach Hause. Deswegen wird der Aufstand häufig als ‹Inkilabi Gorisnegan› (die Revolution des Hungers) bezeichnet»,

sagt Karwan Hewram, Redakteur von ANF-Farsi. (ANF-News)

 

Logo Tudeh-Partei.

Die kommunistische Tudeh-Partei des Iran schreibt:

«Die Spirale von Armut, Mangel, hohen Preisen und chronischer Arbeitslosigkeit, die das Leben eines großen Teils der Bevölkerung und insbesondere der Jugend ruiniert hat, die ausgedehnte und katastrophale Zerstörung der Umwelt durch die katastrophale Politik der herrschenden Macht, und der totale wirtschaftliche Bankrott des Regimes wie auch die Eskalation des äußeren Drucks auf das Regime – all dies zusammen hat zu einer sehr kritischen und explosiven Situation in unserer Gesellschaft geführt. Die Führer des Regimes, die in Luxus leben und die während der letzten 40 Jahre die nationalen Ressourcen und den Reichtum der Nation geplündert haben, fordern die Bevölkerung auf, ruhig zu bleiben und die Entbehrungen zum ‹Schutz des Islamischen Regimes› zu tolerieren – ein Regime, das unserer Nation nichts als Zerstörung und kulturellen, politischen sowie wirtschaftlichen Rückschritt gebracht hat.»

Dazu kommen die Lasten des Krieges. Jeden Monat werden Millionen Dollars für den Krieg in Syrien, dem Libanon und im Jemen verschleudert. Der Verteidigungshaushalt wurde für dieses Jahr verdoppelt, während der Haushalt für Bildung, Gesundheit und andere Bedürfnisse halbiert wurde. «Sie verursachen den Tod von Tausenden von Menschen in diesen Ländern, aber die Menschen im eigenen Land haben Hunger», sagt Karwan Hewram.

Karwan Hewram weist darauf hin, dass mit Ausnahme der kurdischen Bevölkerung die Völker im Iran die aktuelle Veränderungsphase im Mittleren Osten nicht wahrnehmen, und dass das despotische Regime die Opposition zerschlagen hat. Hewram: «Abgesehen vom kurdischen Volk, das durch die Revolutionsphasen in den anderen Teilen stark motiviert wurde, konnten alle politischen Forderungen der Völker des Irans unterdrückt werden. Es gibt im Iran nichts mehr, was als Opposition bezeichnet werden kann. Von den Grünen bis zu den Sozialist*innen über die Demokrat*innen zu den echten Reformer*innen, sie wurden entweder exiliert oder ins Gefängnis geworfen. In Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien standen die despotischen Regimes einer Phase des Wandels gegenüber. Aber der Iran konnte das bisher verhindern, indem er den Krieg außen führte. Aber sowohl das internationale Embargo, die Unterdrückungspolitik des Regimes gegenüber den Völkern, als auch die aktuelle ökonomische Krise sind an einen Punkt geraten, an dem sie nicht weiter ertragen werden können.»

Unterschiede zu früheren Protesten

Demonstrierende.

Begonnen hatten die Proteste mit wirtschaftlichen Forderungen. Doch ganz schnell wurden Losungen laut, die sich direkt gegen die Regierung richten. «Wir können Ökonomie und Politik nicht voneinander trennen», sagt Karwan Hewram. Es sei Teil der iranischen Regimepolitik, die Bevölkerung durch Hunger zu disziplinieren, so Hewram. «Neben dem Hunger hat das Regime im Iran keine einzige Luftröhre zurückgelassen, durch welche die Gesellschaft ruhig atmen kann. Es gibt keine politischen Parteien, keine Intellektuellen, keine gesellschaftlichen Rechte, keine Frauenrechte, keine Zukunft für die Jugend, kein Recht für die Völker. Das ist alles Politik.»

Die Tudeh-Partei betont, dass sich in der Bevölkerung ein Bewusstseinswandel vollzogen hat. Die Erfahrungen der zwei Jahrzehnte und die verschiedenen Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen, die unter der Kontrolle der obersten Führung manipuliert wurden, hätten dazu geführt, dass sich die Menschen nicht mehr auf das Spiel zwischen «schlecht und schlechterem» – zwischen Reformisten und Hardliner – einlassen und nicht mehr bereit sind, ihre Forderungen «durch das Regime und die pro-Regime-Reformisten» manipulieren zu lassen. «Heute will die Mehrheit der Bevölkerung ein Ende des despotischen, theokratischen Regimes, ein Ende der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit», meint die Tudeh-Partei.

Auch Karwan Hewram sieht diese Veränderung. «Es ist richtig, es gibt eine Krise im System des Iran. Bisher haben die Machhabenden das geleugnet. Aber jetzt ist es sehr schwer, das heute noch zu verneinen. Im Iran hat es Wahlen gegeben, und die Bevölkerung hat den Reformisten noch mal eine Chance gegeben. Diese Chance wurde in der Hoffnung auf einen Wandel gegeben und Rohani wurde an die Macht gebracht. Aber es wurde klar, dass auch Rohani Teil dieses Systems ist. So sind beispielsweise 55 Prozent der iranischen Gesellschaft weiblich, aber in Rohanis Kabinett gab es keine einzige Ministerin. Die iranische Gesellschaft besteht zu 50 Prozent aus nichtpersischen Völkern, aus Kurd*innen, Azeri, Bellutsch*innen und Araber*innen, aber nicht einer der Minister im Kabinett stammt aus diesen Gruppen.»

«Die Gesellschaft weiß mittlerweile sehr gut, dass die Reformisten und die Konservativen zwei Spieler im gleichen Spiel sind. … Die Gesellschaft ist sich nun bewusst, dass Reformen das System nicht verändern werden.»

Karwan Hewram, ANF-News

In der Konsequenz richten sich die heutigen Proteste sowohl gegen die Reformer als auch gegen die Konservativen. Und dies ist ein großer Unterschied zu den früheren Protesten, die Aktionen der Reformisten gegen die Konservativen oder das Militär waren. Hewram: «Aber die Aktionen jetzt richten sich direkt gegen die Reformisten. Denn die Reformisten haben die Gesellschaft betrogen. Das machen die Reformisten seit 20 Jahren. Jedes Mal sammeln sie Stimmen und verkaufen die Hoffnungen des Volkes an Chamenei und das Militär. Die Gesellschaft weiß mittlerweile sehr gut, dass die Reformisten und die Konservativen zwei Spieler im gleichen Spiel sind. In dieser Hinsicht lohnt sich ein Blick auf die Parolen: ‹Tod dem Diktator›; ‹Tod Rohani›, ‹Tod der islamischen Republik›, ‹Tod der Hisbollah› wird gerufen. Die Gesellschaft ist sich nun bewusst, dass Reformen das System nicht verändern werden.»

Ein weiterer Unterschied zu den früheren Protesten liegt darin, dass die Teilnehmer*innen einer neuen Generation angehören. Polizeiberichten zufolge sind 90 Prozent der bisher Festgenommenen erst 25 Jahre alt oder jünger.

Mohammad Ali Shabani schreibt in Al-Monitor:

»Dies ist eine neue Generation, die jetzt auf der Straße ist. Die 90er Generation. Eine Generation, die keine Grenzen anerkennt. Eine Generation, die keinen Kandidaten im Rennen hat. Bei den aktuellen Demonstrationen ist kein Raum für Zugeständnisse, kein Signal an Khatami (Anm.: reformistischer Ex-Präsident) oder an Hossein Mousavi (Anm.: 2009 unterlegener Präsidentschaftskandidat, der die Proteste gegen die Wahlmanipulation unterstützte und bis heute unter Hausarrest steht). Was wollen diese Menschen? Es gibt keine Ähnlichkeit zu den Ereignissen von 2009. Das Fehlen von spezifischen reformistischen Forderungen wie die Freilassung von Mousavi weist darauf hin, dass die Protestierenden in ihren Forderungen radikalisiert worden sind und/oder nicht zu der Generation gehören, die die Erfahrungen von 2009 als Erwachsene gemacht haben und pragmatischer geworden sind – wie es in der höheren Wahlbeteiligung 2013 und 2017 zum Ausdruck kam. Die Aussicht, dass eine neue Generation von Iraner*innen ihren Glauben in die Fähigkeiten des politischen Establishments verloren hat, ist ein Weckruf für das Reformistische Lager, und vielleicht eine neue und eindeutige Herausforderung für die Staatsgewalt. Es bedeutet auch, dass es einen tiefen und vielleicht wachsenden Bruch mit den politischen Eliten gibt.»
(Mohammad Ali Shabani: «How Rouhani can use protests to advance reform», Al-Monitor)

Tudeh-Partei warnt vor ausländischer Einmischung und reaktionären Kräften

Doch offenbar versammeln sich bei den Demonstrationen Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Positionen. Manche fordern Frauenrechte, soziale Gerechtigkeit und Demokratie oder den Sozialismus, das Ende der iranischen nahostpolitik – «Lass Syrien, lass den Libanon, schau auf den Iran!» -, aber andere auch die Wiedereinführung der Monarchie.

Die Tudeh-Partei warnt, dass sich die Auseinandersetzungen im Iran unter der Bedingung «gefährlicher regionaler Spannungen» vollziehen. «Die regionale Reaktion, unterstützt von der Trump-Regierung der USA und der Rechtsregierung von Netanyahu in Israel, strebt danach, das gegenwärtige reaktionäre Regime durch ein anderes reaktionäres Regime zu ersetzen. Die Unterstützung dieser Kräfte für die iranischen Monarchisten und diejenigen politischen Gruppen, deren Agenda die Kooperation mit den reaktionärsten Regimes der Region und Forderung an die Europäische Union nach Sanktionen gegen die iranische Wirtschaft sowie die Ermunterung an ausländische Staaten zur militärischen Intervention ist, lässt keine Raum für Optimismus bezüglich der Zukunftsvorstellungen dieser ‹Opposition›. Die progressiven und freiheitsliebenden Kräfte des Iran müssen ihre Präsenz in der Massenprotestbewegung verstärken, richtige volksorientierte Losungen vermitteln, eine spürbare Führung anbieten und die legitimen Forderungen der Massen für das Ende des Unterdrückungsregimes und der wirtschaftlichen Entbehrungen, Ungerechtigkeit und Plünderung der natürlichen und menschlichen Ressourcen unterstützen – und reaktionäre und spalterische Losungen vermeiden und zurückdrängen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Vergangenheit zurückkehrt und der heroische Kampf der Nation für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit von einem Haufen reaktionärer Opportunisten missbraucht wird, die nicht an die Rechte der Bevölkerung oder die demokratischen Freiheiten glauben.»

Wie kann es weiter gehen?

Eine Lösung könne nur durch den gemeinsamen und organisierten Kampf aller gesellschaftlichen Schichten gefunden werden, so die Tudeh-Partei – «von den Arbeiter*innen und allen arbeitenden Menschen, der kämpferischen Jugend, den Studierenden, Frauen und den progressiven Intellektuellen». Und ohne ausländische Einmischung.

 

»Alle Kräfte, die eine Volksrevolution wollen, sollen zusammenkommen und gemeinsam weiter vorangehen – das ist die Botschaft.»
 

Porträt Karwan Hewram.

Karwan Hewram antwortet auf die Frage, wie es weitergeht:

»Wenn das Regime das Volk angreift, dann wird es keinen Schritt zurückgehen. Sie haben bisher versucht vorsichtig vorzugehen. Sie sehen auch, dass sich diese Wut 40 Jahre lang aufgestaut hat. Ja, die Revolution war richtig, aber die Ergebnisse nicht. Die Revolution ist gestohlen worden. Die Menschen wollen nun die Revolution von den Mullahs zurück und die Fehler korrigieren. Mit ihrer Aneignung wollen die Menschen die Verantwortung und Führung übernehmen.»

Frage: Wer kann die Führung der Revolution übernehmen?

»Das ist die Aufgabe, die den Revolutionär*innen im Ausland, den Intellektuellen, der Bevölkerung, den Jugendlichen, den Frauen und allen Komponenten der Gesellschaft zufällt. Aber wenn man etwas macht, dann muss man Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit ziehen und diese Aufgabe ohne Erwartung einer Intervention von außen übernehmen.»

Frage: Wenn von organisiertem Kampf im Iran gesprochen wird, sind die Kurd*innen die ersten, die einem in den Sinn kommen. Wie sehen Sie die Möglichkeit die kurdische Opposition mit der persischen, arabischen, belutschischen, aserbaidschanischen und andere sozialen Dynamiken zusammenzubringen. Können Sie zusammenfinden, oder wird es sein wie nach 1979?

«Nach der Revolution von 1979 war das Zentrum aller linken, sozialistischen und kommunistischen Parteien in Sine (die Hauptstadt der iranischen Provinz Kordestan Rojhilat nahe der Grenze zum Irak). Abgesehen von den kurdischen Parteien sahen diese Parteien Sine als ihr Zentrum. Das ist ein tiefes Vermächtnis. Es ist also nichts Neues. Dieses Erbe kann die revolutionären und demokratischen Kräfte zusammenbringen. Es ist ein gemeinsames Vermächtnis. Auf der anderen Seite ist das kurdische Volk eine politisierte Gesellschaft. So ist es auch in Rojhilat. Es ist das politisierteste Volk im Mittleren Osten. Es beeinflusst auch die anderen Völker. Der einzige Grund, warum sich das iranische Regime so sehr gegen das kurdische Volk in Rojhilat richtet, ist, dass sie keine Politisierung zu lassen wollen, sie versuchen zu entpolitisieren. Aber für das kurdische Volk ist Politik bedeutsamer als Brot und Wasser. So wurde zum Beispiel bei den Aktionen von Meshed die Parole ‹Tod der Teuerung› gerufen, während in Kurdistan ‹Freiheit für alle politischen Gefangenen› gerufen wurde.»

Frage: Können die beiden Parolen zusammenkommen?

«Natürlich können sie das. Denn die Menschen im Iran haben Tausende Jahre Erfahrung im Zusammenleben. Sie haben ein großes Erbe. Sie haben Schulter an Schulter Dutzende von Diktaturen gestürzt. Es gab Dutzende von erfolgreichen Revolutionen. Wenn die revolutionären Kräfte und ihre Anführer*innen mit einem demokratischen Programm zusammenkommen können, dann gibt es keinen Grund, warum sie nicht erfolgreich sein sollten. Wenn sie sich dem Volk gegenüber aufrichtig verhalten, gibt es keinen Grund für ein Scheitern. Die Bevölkerung will es. Zum Beispiel war eine Parolen die heute gerufen wurde: ‹Habt keine Angst, habt keine Angst, wir sind alle zusammen›. Das ist eine Botschaft. Alle Kräfte, die eine Volksrevolution wollen, sollen zusammenkommen und gemeinsam weiter vorangehen – das ist die Botschaft.»
(Auszug aus dem Interview «What do the people in Iran want, why do they protest?»)

 

Quelle: kommunisten.de


Anmerkung:
Nach der Iranischen Präsidentschaftswahl am 12. Juni 2009 gab es in Teheran und anderen größeren Städten der Islamischen Republik Iran öffentliche Proteste und Demonstrationen gegen das amtlich bekannt gegebene Wahlergebnis, das dem bisherigen Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad mit 62,63 % die absolute Stimmenmehrheit einräumte. Diese Proteste sind als Grüne Bewegung bekannt und wurden blutig niedergeschlagen.
Siehe: wikipedia: Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen 2009